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Peter Andreas Staub: "Weniger Regulierung – mehr Mut"Editorial im Ärzteblatt Rheinland-Pfalz | Ausgabe 05/2025

Manchmal hilft ein Blick in die Geschichte. Als Lenin und Trotzki nach der Oktoberrevolution 1918 den brutalen Kommunismus umsetzen und jegliche Marktwirtschaft und den Kapitalismus mit Stumpf und Stiel ausrotten wollten, gelang das nur mit dem Verbot der Privatwirtschaft.

Die Enteignung der Fabrikbesitzer und Kaufleute mag noch einigermaßen nach den Vorgaben im Marx’schen Sinn verlaufen sein. Aber die brutale bäuerliche Unterjochung mit vorgeschriebenen Getreiderequisitionen zur Erfüllung der Planwirtschaft machte aus den gerade erst aus der Leibeigenschaft entlassenen Bauern Staatssklaven und führte die junge Sowjetrepublik mit einer fürchterlichen Hungersnot 1920/21 an den Rand des Abgrunds. Denn die Bauern machten einfach nicht mit. Der gesamte Warenaustausch zwischen Land und Stadt verödete, angebaut wurde gerade noch so viel, wie der Eigenverbrauch der Bauern notwendig machte.

Lenin selbst erkannte, dass man die Bedürfnisse der Bauernschaft sträflich vernachlässigt hatte. Die Zügel wurden wieder lockerer: Die Neue Ökonomische Politik 1921 brachte die Kehrtwende gegen jegliche marxistische Theorie. Nur die beschränkte Zulassung einer Marktwirtschaft, des Kerns des Kapitalismus, brachte in den nächsten Jahren einen spürbaren Aufwind für die Versorgung des ganzen Landes. Bauern war es wieder erlaubt, mehr zu produzieren, als sie selbst verbrauchten. Und vor allem durften sie wieder für die eigene Tasche auf den Märkten verkaufen und mussten den privaten Überschuss nicht abliefern – der Kern der Privatwirtschaft.

Aber an diesem Zugeständnis und dieser schmerzlichen Einsicht litten die ideologischen Theoretiker und das ganze sozialistische System bis zum Schluss. Der ökonomische Streit zwischen Marktfreiheit und Staatsplanung schlug wie ein Pendel mal mehr in die eine, mal in die andere Richtung aus. Entschieden wurde er erst nach dem evidenten Zusammenbruch der kommunistischen Ökonomie. Die beste und ausgeklügeltste Planwirtschaft mit den feingliedrigsten Regelwerken der Leistungsbeschränkung löste in all den Jahrzehnten kein einziges Versorgungsproblem hinter dem kugelbewehrten Eisernen Vorhang.

Warum gibt es heutzutage noch so viele Anhängerinnen und Anhänger dieser sich längst als unzulänglich erwiesenen Wirtschaftsform? Und warum meinen immer noch so viele, dass gerade im Bereich der Gesundheit ein Übermaß an Regelung, Bedarfsplanung, Budgetierung, Sanktionierung, kleinteiligem Bürokratismus und Staatsgängelung die erwiesenermaßen vorhandenen Versorgungsprobleme im ambulanten und wohl auch im stationären Sektor lösen sollten? Dass sich dieses System erledigt hat und nicht selbst aus dem Sumpf ziehen kann, ist den Ehrlichen längst klar. Und dennoch werden immer wieder auch die kleinsten Rettungsversuche aus den gegängelten Niederlassungen heraus torpediert. So zum Beispiel die Privatbehandlung in Kassenpraxen.

Der Kassenverbandsideologie und Bundespolitik-Theorie passt in das von ihnen entworfene planwirtschaftliche Konzept der Gesetzlichen Krankenversicherung die Sünde der kleinen Privatpatienten-Nische systemwidrig nicht hinein. Und so werden ständig Neid und Zwietracht in die Bevölkerung gesät, weil ein kleiner Teil bei manchen Arztterminen ein paar Tage früher drankommt als die anderen. 90 Prozent der Bevölkerung Deutschlands sind gesetzlich versichert und werden in dem von Theoretikerinnen und Theoretikern ersonnenen halbstaatlichen Korsett mit unzureichenden finanziellen Mitteln in den vorgeschriebenen wöchentlichen Sprechstundenzeiten rechtzeitig behandelt. 

Mehrarbeit oder Ausdehnung mit Angestellten werden im Honorar sofort abgeschnitten. Aufgrund der Budgetierung werden jegliche Anreize zur Belohnung von Mehrarbeit – wie jüngst der Versuch einer nachweislich erfolgreichen Neupatienten-Vergütung – wieder im Keim erstickt. Stattdessen soll eine rigide Patientensteuerung durch ein bürokratisches Primärarztsystem geschaffen werden, das vor Facharztbesuchen weitere zusätzliche Termine und Untersuchungen im hausärztlichen Bereich vorschreiben will. Mit welchen Ärztinnen oder Ärzten, fragt man sich? 

Und allen Ernstes soll eine neue zentrale Terminverwaltung für die Verteilung der immer rarer werdenden Sprechstunden bei immer weniger niederlassungsbereiten Ärztinnen und Ärzten sorgen. Im Gegenteil, viele flüchten aus dem wirtschaftlich ruinösen Kassenarztsystem in die reine Privatbehandlung und dünnen das Netz gerade im Facharztbereich weiter aus. Diejenigen, die bleiben, können das nur, weil sie das bisschen Zeit, das ihnen nach vorgeschriebener Pflichterfüllung des Versorgungsauftrags an Kassenpatientinnen und -patienten bleibt, mit Privatpatientinnen und -patienten füllen. Damit können sie die systematische Zechprellerei der Kassen aus der Budgetierung mit privater Mehrarbeit ein wenig auffüllen. 

Allein die im Vergleich zu gesetzlich Versicherten geringe Anzahl an Patientinnen und Patienten deutet an, dass diese zusätzlichen Stunden keine Kassenpatientinnen und -patienten blockieren, für die der überwiegende Teil der Woche aufgewendet wird. Doch passen den harten Systemideologinnen und -ideologen der Gesetzlichen Krankenversicherung die Privatversicherungen und Privatbehandlungen durch Kassenärztinnen und -ärzte als kleinkapitalistische Brandstiftung nicht in ihr planwirtschaftliches Gesamtkonzept. Heiliger Bürokratius, hilf! Es sind in der festgefahrenen Situation nur folgende Maßnahmen für den ambulanten Gesundheitsbereich nötig:

  • Die Bedarfsplanung als bürokratisches Verteilungsinstrument ist zu einem Vereitelungssystem verkommen und gehört reformiert, reduziert und in Teilen sogar abgeschafft.
  • Die Zulassungsverordnung ist zu entschlacken und daraufhin anzupassen, dass Praxen sich nach Bedarf vergrößern können, wie es die Versorgungslage verlangt. Ärztliche Angestellte, Assistenzen und Kooperationen müssen unbürokratisch möglich sein.
  • Das Honorarsystem ist von den budgetierenden und Leistung verhindernden Begrenzungen zu befreien. Es muss sich wieder lohnen, sich für alle Patientinnen und Patienten einzusetzen, und nicht dafür Einbußen zu kassieren.
  • Patientinnen und Patienten müssen ihre Eigenverantwortung wahrnehmen können und zu den Ausgaben, die sie verursachen, mit einem prozentualen Eigenanteil, gedeckelt durch eine Obergrenze, herangezogen werden. Diese Selbstbeteiligung muss sozial abgefedert sein.

Die Geschichte hat zweifelsfrei gezeigt, dass gelenkte, überregulierte, verplante, durchbürokratisierte Systeme kollabieren. Wann erkennen die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker im Bund, dass der Kollaps der gesetzlichen Gesundheitsversorgung mit den jetzt angedachten weiteren Regulierungen bevorsteht? Paul Watzlawik hat dies in seiner “Anleitung zum Unglücklichsein” so beschrieben: Wenn Menschen in ihr Unglück rennen und merken, dass ihre Maßnahmen zur Abwendung nicht helfen, entscheiden sie sich häufig zu noch “mehr desselben”. Sie glauben, dass die falschen Handlungen nur noch zu wenig angewendet wurden und einfach nur verstärkt werden müssen. Der Systemwechsel gelingt nur mit dem Wechsel der Perspektive: Einfach mal etwas ganz anderes machen, um dem Kollaps zu entfliehen. Die alten Instrumente abschaffen und Freiraum lassen. Wo sind mutige Politikerinnen und Politiker?

Peter Andreas Staub, Vorstandsmitglied der KV RLP

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